Viktor Hurr: Ausgesetzt.

Tafel 16 - Eine Bilanz des Schreckens

1914–1918:
Insgesamt sollen im Verlauf des I. Weltkrieges etwa 200.000 russische Staatsbürger deutscher Herkunft Zwangsverschickung erleben. Wie viele die Strapazen der Aussiedlung, die lange Fahrt in den überfüllten Zügen und die Entbehrungen in den Bestimmungsorten nicht überlebt haben, lässt sich nicht einmal annähernd feststellen. Auf jeden Fall handelt es sich um hunderttausende Menschenleben.

1918–1922:
Die Zahl der Hunger- und Bürgerkriegsopfer allein unter den Wolgadeutschen – innerhalb und außerhalb des autonomen Gebiets, die Hungerflüchtlinge eingerechnet – wird auf 108.000 geschätzt. Für das Schwarzmeergebiet ist von 50.000–60.000 Toten auszugehen. Unter Einbeziehung anderer Siedlungsräume in Sibirien, Zentralasien und Zentralrussland sind für diese Jahre mindestens 180.000–200.000 Opfer unter der russlanddeutschen Minderheit zu beklagen.

1924:
Eine weitere Hungersnot in der Wolgarepublik von weit geringerem Ausmaß als zwei Jahre davor fordert etwa 5.000 Menschenleben.

1928–1932:
Übergang zur Zwangskollektivierung der selbstständigen Bauernwirtschaften, einhergehend mit der restlosen Enteignung der wohlhabenden Bauern („Kulaken“) und ihrer Verbannung nach Kasachstan und in den hohen Norden. Die Kulakendeportationen betreffen bis zu diesem Zeitpunkt etwa 50.000 Deutsche. Mehrere Tausend werden von der GPU (Geheimpolizei) verhaftet und abgeurteilt. Die Strafen reichen von dreijähriger Haft bis zum Erschießen.

1932–1933:
Hungerkatastrophe an der Wolga, in Kasachstan und in der Ukraine – Folge der überstürzten und unfreiwilligen Kollektivierung. Insgesamt sterben nicht weniger als 100.000 Russlanddeutsche an den Folgen der stalinistischen „Umgestaltung der Landwirtschaft“.

1937–1938:
Die sowjetische politische Strafjustiz verurteilt in diesen zwei Jahren 1.345.000 Personen, von denen 681.692 erschossen werden. Nach den bislang veröffentlichten Opferlisten und der Schätzung der russischen Menschenrechtsorganisation „Memorial“ kostet der „Große Terror“ etwa 55.000 Deutschen das Leben; weitere 20.000 landen im Straflager (GULag).

1942:
Durch geheime Beschlüsse des GKO vom 10. Januar, 14. Februar und 7. Oktober werden im Laufe des Krieges ca. 350.000 russlanddeutsche Jugendliche, Frauen und Männer zur Zwangsarbeit mobilisiert. Dabei sind etwa 60.000–70.000 Lageropfer zu beklagen.

1941–1945:
In den Sondersiedlungsorten in Sibirien und Kasachstan kommen aufgrund miserabler Unterbringungsbedingungen und fehlender Lebensmittel etwa 70.000–80.000 Deportierte ums Leben.

1941–1948:
Tausende und Abertausende – man kann von nicht weniger als 15.000–20.000 Fällen ausgehen – sterben in den Nachkriegsjahren in der Verbannung vorzeitig, vor allem wegen der Hungersnot 1946–47.

Zusammen mit den Umgekommenen in Zwangsarbeiterlagern und Sondersiedlungen werden die Verluste der russlanddeutschen Minderheit in diesen Jahren auf nicht weniger als auf 150.000 bis 160.000 Menschen geschätzt.

Viktor Hurr: Frauen in der Trudarmee.

Im Schicksal der Russlanddeutschen spiegelt sich, wie in keinem anderen Volk, der erste Zivilisationsbruch der europäischen Geschichte wider, der mit der Machtergreifung der Bolschewiki eingeleitet wird und mit dem untrennbar das Wort „GULag“ verbunden ist:

  • wahllose Erschießungen im Bürgerkrieg;
  • Lebensmittelrequisitionen, die den millionenfachen Hungertod 1921–22 verursachten;
  • restlose Enteignungen der Bauernschaft;
  • Deportationen und Zwangsarbeit für mindestens zwei Millionen wohlhabende Bauern („Kulaken“);
  • durch überstürzte Kollektivierung hervorgerufene Hungersnot 1932–33, die wieder Millionen Menschen das Leben kostete;
  • Kirchen- und Glaubensverfolgungen;
  • Massenterror mit hunderttausendfachen Justizmorden und Einweisungen von Millionen ins Straflager;
  • Deportationen seit 1935 und verstärkt nach Ausbruch des II. Weltkrieges.

Auf mindestens 20 Millionen Menschen sollte sich die Zahl der Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft in der UdSSR belaufen.
Die Russlanddeutschen mussten unter diesen und vielen anderen Verbrechen überdurchschnittlich leiden. Nach einer eher konservativen Rechnung sind von 1917 bis 1948 etwa 480.000 deutsche Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer vorzeitig ums Leben gekommen: erschossen, erfroren, verhungert, an Entkräftung und Krankheiten gestorben. Eine gravierende Zahl für eine Ethnie, die Anfang der 50er-Jahre des vorigen Jahrhunderts lediglich um die 1,35 Millionen Menschen zählte.

Aus: Dr. Viktor Krieger, Heidelberg,
„Das kollektive Gedächtnis
der russlanddeutschen Bundesbürger“