Die ehemalige Mädchenschule in Chortitza am Dnjepr.

Tafel 9 - Kultureller Aufschwung – Verkehrung ins Gegenteil

Die Kirchen

Das kirchliche Leben hatte für die Kolonisten eine besondere Bedeutung.

Ihre evangelischen, katholischen und mennonitischen Kirchengemeinden standen zwar unter dem Schutz der Zaren, wie es in den Privilegien verbrieft war. Sie hatten aber keinen Anspruch auf materielle Unterstützung. Auch eine Hilfe aus der Heimat war wegen des Missionierungsverbot für die christlichen Westkirchen im Russischen Reich nicht möglich.

Dadurch waren die Gemeinden auf die Opferbereitschaft der Gläubigen angewiesen. Neue Theologen zu bekommen, war schwierig, die wenigen Geistlichen wurden daher von den Lehrern tatkräftig unterstützt.

Es entwickelte sich bei den Deutschen in Russland eine kulturgeschichtlich wohl einmalige Gemeinschaftsform zwischen bürgerlicher und kirchlicher Gemeinde, die wiederum eine tragende Säule bei der Identitätswahrung war. Damit sind auch die zahlreichen und prächtigen Kirchenbauten selbst in kleineren Siedlungen zu erklären.

Die Kirchen von Schäfer, von Artjom Uffelmann bei einer Wolgareise 2012 aufgenommen im nassen Kollodiumverfahren, einem Negativ-Verfahren aus der Frühzeit der Fotografie.

Lehrer und Schüler 1915 in Alt-Rotowka, Gebiet Rostow am Don.
Die ehemalige Mädchenschule in Chortitza am Dnjepr.

Die Schulen

Das Schulwesen der Deutschen nahm in Russland ebenfalls eine Sonderstellung ein.

Die Schulfrage war weder im Manifest Katharinas noch in seinen Durchführungsbestimmungen enthalten, weil es in Russland bis Anfang des 20. Jahrhunderts kein staatliches Schulwesen gab.

So waren die Kolonisten sich selbst überlassen und schufen aus dem Nichts ein später für ganz Russland vorbildliches Schulsystem. Die deutschen Einwanderer waren sich vom ersten Tag der Ansiedlung an dessen bewusst, dass derjenige, der seine Muttersprache nicht mehr spricht, seine nationale Identität verliert.

Schulträger waren neben Stiftungen und Schulvereinen die Kirchengemeinden. In jeder Siedlung gab es eine vierstufige Grund- oder Elementarschule. Schon bald entstand als Modell für alle deutschen Kolonien eine weiterbildende Schulart, die Zentralschule, in der auch die Lehrerausbildung stattfand. Später kamen Lehrer- und Predigerseminare, Gymnasien sowie Handels- und Landwirtschaftsschulen dazu. Auch zwei deutsche Taubstummenanstalten wurden eingerichtet.

Zeit der Reformen

Abschaffung der Sonderrechte

Die Blüte des Deutschtums in Russland fand mit Alexander II. (1855–1881) ein jähes Ende. Er war nach dem verlorenen Krimkrieg (1853–1856) gezwungen, weitgehende innenpolitische Reformen einzuführen, die das Leben und die Rechtsstellung der Deutschen in Russland tiefgreifend veränderten. Die bei der Ansiedlung „auf ewige Zeiten“ gewährten Privilegien wurden aufgehoben und die Deutschen allen anderen Bürgern des Russischen Reiches gleichgestellt. Besonders schwer wirkten sich dabei die Aufhebung der Selbstverwaltung und die Ausdehnung der Wehrpflicht auch auf die Deutschen aus, was vor allem die Mennoniten sehr schwer traf.

Zar Alexander III. (1881–1894) steigerte die begonnene Russifizierung der Deutschen noch beträchtlich: In den deutschen Schulen wurde 1891 in allen Fächern die deutsche Sprache abgeschafft und die russische eingeführt. So war die Bewahrung der deutschen Identität auf die Kirchen und Familien beschränkt.

Trotz einer vorübergehenden Erleichterung im Zuge der sogenannten Kleinen Revolution (1905–1907) gewann die russisch-chauvinistische und panslawistische Bewegung immer mehr Einfluss auf die russische Politik. Die Ablehnung und der Hass gegen die Deutschen – vor allem ihre Leistungen und Erfolge – wurden bei der russischen Intelligenz und beim Besitzbürgertum immer stärker.