Das Deutsche Schauspieltheater in Temirtau.

Tafel 17 - Kulturelle Wiederbelebung

Nach der Volkszählung von 1989 bekannten sich rund zwei Millionen Deutsche in der damaligen Sowjetunion zu ihrem Volkstum. Es dürften aber tatsächlich mehr gewesen sein, weil zum Zeitpunkt der Erhebung das Bekenntnis zum Deutschtum noch mit persönlichen Risiken verbunden war.

Es grenzt an ein Wunder, dass die Russlanddeutschen trotz ihrer Verstreuung und ihrer über 50 Jahre dauernden sprachlichen und kulturellen Unterdrückung ihre Zugehörigkeit und ihr Bekenntnis zur deutschen Volksgruppe bewahrten.

Kaum waren die Kommandantur aufgehoben und die Rehabilitierung offiziell verkündet, fingen die Russlanddeutschen mit bescheidensten Mitteln an, ihre kulturelle Eigenständigkeit zu finden.

Nach dem Verbot der Autonomiebewegung entfalteten sie in den 70er- und 80er-Jahren eine im Westen kaum wahrgenommene kulturelle Aktivität, mit der sie ihre Landsleute in der gesamten Sowjetunion für die Volksgruppe motivierten und ihnen Mut und Zuversicht für die Zukunft vermittelten.

Das 1980 als Wanderbühne gegründete „Deutsche Schauspieltheater Kasachstan“ in Temirtau (später in Alma-Ata) übernahm in dieser „Volksgruppenpolitik durch Kultur“ die Rolle einer damals noch nicht bestehenden Volksgruppenvertretung.

Teilnehmer des Festivals der deutschen Kultur 1990 in Alma-Ata, Kasachstan, aus Nowodolinka (Zelinograd; oben links), aus Nowoskatowka (Omsk, oben rechts) und aus Shdanowka (Orenburg, unten links). Rechts unten Schlussbild des Festivals.

Im Zuge von Perestroika und Glasnost waren die meisten Russlanddeutschen optimistisch bezüglich einer Verwirklichung der Autonomie und sahen für sich Perspektiven im Land, was zum Teil auf die allgemeine Welle der Hoffnung in der gesamten Sowjetunion zurückzuführen war.

Die ersten Verbände und zahlreiche kulturelle Vereinigungen der Russlanddeutschen waren Zeichen ihres Selbstbewusstseins und ihres großen Willens, die eigene kulturelle Identität zu bewahren und zu pflegen.

Denn: Hatten 1926 noch 95 Prozent der Deutschen in Russland Deutsch als Muttersprache angegeben und 1959 immerhin noch 75 Prozent, waren es 1989 nur noch 48 Prozent.

Das war nicht verwunderlich, da es ab 1938 keine deutschen Schulen mehr gab (mit Ausnahme der deutschen Wolgarepublik mit 171 Schulen bis 1941) und die Deutschkenntnisse bei vielen Russlanddeutschen auf den Dialekt zurückgedrängt wurden, sofern er noch familiär vermittelt werden konnte. Und während des Krieges und unmittelbar danach war sogar der Gebrauch des Dialekts verboten.

Als erste freie Organisationen der Deutschen in der ehemaligen UdSSR wurden gegründet:

  • 1989 die zwischenstaatliche Vereinigung der Deutschen („Wiedergeburt“);
  • 1990 der Internationale Verband der Russlanddeutschen;
  • 1991 der Internationale Verband der deutschen Kultur.

Und obwohl in ihrer Entfaltung massiv unterdrückt, hinterließen die Deutschen auch im geistigen und gesellschaftlichen Leben nicht zu übersehende Spuren. Als einige Beispiele von vielen seien genannt:

  • die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Boris Rauschenbach und Eugen Pinnecker;
  • die Mitglieder der Nationalen Akademie der Republik Kasachstan, Erwin Gossen und Ernst Boos;
  • der bedeutende Komponist Alfred Schnittke und die weltberühmten Pianisten Swjatoslaw Richter und Rudolf Kehrer;
  • die Olympiasieger im Gewichtheben, Rudolf Pflugfelder und David Riegert.