Heinrich Brogsitter: „Tschorny Woron“

Tafel 11 - 1937/38 – Jahre des „Großen Terrors“

Oft wird der Eindruck erweckt, die Verfolgung der Deutschen in Russland bzw. der Sowjetunion habe erst mit dem Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 „Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen“ begonnen. Davon kann jedoch keine Rede sein.

2012 etwa gedachte die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland neben der Verbringung deutscher Frauen und Männer in die sowjetischen Zwangsarbeitslager auch des „Großen Terrors“ in der Sowjetunion, der sogenannten stalinistischen Säuberungen, die in den Jahren 1937 und 1938 ihren Höhepunkt hatten.

Als Grund für die massenhafte Verfolgung von Minderheiten wird u. a. die deutliche Wende in der sowjetischen Innenpolitik ab Mitte der 1930er-Jahre mit einer zunehmenden Abkapselung vom Ausland genannt. Man argwöhnte, ausländische Staaten könnten durch nationale Minderheiten schädliche Einflüsse ins Land bringen.

Kaum einer der Verhafteten und Verurteilten hatte sich etwas zuschulden kommen lassen. Es herrschte blanke Willkür, und es genügten Denunziationen und haltlose Verdächtigungen, um die Menschen für immer aus ihren Familien zu reißen. Verurteilt wurden sie in Pseudogerichtsverfahren, in denen ihnen antisowjetische Tätigkeit zur Last gelegt wurde. Sie wurden verurteilt, ohne jeden Beweis für eine Verfehlung oder aufgrund von Geständnissen, die unter Folter zustande gekommen waren.

Bilder Links von Viktor Hurr: „Unruhige Zeiten“  rechts Michael Disterheft: “Notturno” 

Ich denke an das Jahr 1937, als Stalins Häscher im September in unser Dorf kamen und 54 Männer verhafteten und nach Sibirien verbannten. Keiner kam jemals wieder. Ich war damals sieben Jahre. Je älter ich werde, desto mehr denke ich an diese Nacht. Was waren die letzten Gedanken meines Vaters? Wie ist er gestorben? Wo ist sein Grab? Wir hatten nicht einmal die kleinste Chance, uns vom Vater zu verabschieden. Noch heute nagt der Schmerz in unseren Herzen. Es leben nicht mehr viele von der Erlebnisgeneration; ihre Nachfahren wissen nur wenig über diese schreckliche Zeit. Ich habe vergeben, vergessen kann ich jedoch niemals! Möge Gott unsere Klage hören und die Weltöffentlichkeit unsere Toten in ihre Gebete mit einschließen!

Nelly Däs

Unter dem Terror dieser Jahre hatten alle Völker der Sowjetunion zu leiden, in besonderem Maße aber Minderheiten wie Polen, Deutsche, Letten, Esten, Iraner oder Finnen. So stand dem Bevölkerungsanteil der Deutschen in der Sowjetunion von 0,8 Prozent ein Anteil an der Gesamtzahl der Verhafteten von 5,3 Prozent gegenüber.

  • Bis zum 16.11.1937 wurden im Zuge der „Deutschen Operation“ gegen 2.554 Personen Urteile gefällt; 2.294 dieser Personen wurden zum Tode, 74 zu zehn Jahren Lager und 168 zur Verbannung verurteilt.
  • Zum 10.1.1938 war die Anzahl der zum Tode Verurteilten auf 8.597 angestiegen.
  • Bis zum 15.11.1938 wurden Verfahren gegen 56.787 Personen durchgeführt. Davon wurden Urteile gegen 55.005 Personen verhängt. 41.898 Personen wurden zum Tod durch Erschießen, 10.247 zu zehn Jahren Haft, 1.913 zu fünf bis acht Jahren Haft im Besserungsarbeitslager verurteilt.
  • Die meisten Todesurteile wurden gegen die Verhafteten in der Ukraine (18.005 Personen), in den Regionen Krasnodar (2.784) und Altaj (2.412) sowie in den Gebieten Nowosibirsk (2.548) und Leningrad (2.536) verhängt.

Die Historiker N. Ochotin und A. Roginskij kamen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass nach allen „nationalen“ Operationen 335.513 Personen verurteilt wurden, davon 73,66 Prozent zum Tode durch Erschießen. Bei der „Deutschen Operation“ lag dieser Anteil bei 76,17 Prozent.

Nach ihren Berechnungen wurden 1937–1938 zwischen 69.000 und 73.000 Deutsche verurteilt, darunter 40.000 bis 41.000 nach „nationalen“ Operationen, 20.000 bis 22.000 im Zuge der „Kulaken-Operation“, der Rest durch Sonderberatungen des NKWD und von Gerichten.

Großer Terror: Vom 1. Januar 1936 bis zum 1. Juli 1938 in der UdSSR verhaftete Personen